Hungertuch 2021

Das Hungertuch 2021/2022

Die MISEREOR-Hungertücher sind seit mehr als 30 Jahren zentraler Bestandteil der Fastenaktionen. Alle zwei Jahre gestaltet eine Künstlerin oder ein Künstler das aktuelle Hungertuch. Gemeinden und Schulen verwenden das Bild, um sich in der Fastenzeit und darüber hinaus mit drängenden Themen der sozialen Gerechtigkeit auseinander zu setzen.


„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“

Dieser Vers aus dem Psalm 31 steht als Titel über dem Hungertuch von Lilian Moreno Sánchez. Die Verse 8 und 9 lauten:

Ich will frohlocken und mich freuen an deiner Gnade, denn du hast mein Elend angesehen, du hast auf die Nöte meiner Seele geachtet und hast mich nicht ausgeliefert in die Hand des Feindes, sondern hast meine Füße in weiten Raum gestellt.

Der Psalm ist vor rund 2.500 Jahren entstanden, wohl in der Zeit des babylonischen Exils; in ihm werden Erfahrungen von Krankheit, Einsamkeit, Unterdrückung und Verzweiflung verarbeitet. Immer haben die Menschen Zuflucht bei Gott gesucht und gefunden. Aus der Enge der Angst blickten sie hinaus ins Weite und schöpften Kraft für einen Neubeginn.

Er beschreibt in wunderbarer Weise, was im Glauben alles möglich ist. Die Metapher des Fußes lässt uns an Aufbruch, Bewegung und Wandel denken, das Bild des weiten Raumes lässt uns aufatmen, ermutigt zu Visionen. Und der Vers sagt noch mehr: Gott öffnet uns nicht nur einen weiten Horizont, er gibt uns auch festen Stand. Wenn menschlich gesehen alles hoffnungslos erscheint, zeigt Gott uns Auswege.

Der Psalm und das Hungertuch greifen auf ihre je eigene Art die Themenbereiche Elend/Angst/Bedrohung/Behinderung und Heilung/Weite/Vision/Bewegung auf.

Die Künstlerin

Lilian Moreno Sánchez, geboren 1968 in Buin/Chile, studierte Bildende Kunst an der Universität von Chile in Santiago de Chile und kam nach ihrem Diplom durch ein DAAD Stipendium nach Deutschland, wo sie ihre Studien an der Akademie der Bildenden Künste in München fortsetzte; seit Mitte der 90-er Jahre lebt und arbeitet sie in Süddeutschland.

Ihre Kunst durchbricht die Oberflächlichkeiten des Lebens und kreist, die Erfahrungen während der chilenischen Militärdiktatur verarbeitend, um Leid und seine Überwindung durch Solidarität. Oft verarbeitet sie Röntgenbilder und trägt ihre Zeichnungen auf Krankenbettwäsche auf. Ihre Werke bleiben nicht bei der Passion stehen: Über aller Realität steht auch schon die Verklärung.

Der Fuß

Schauen wir auf dieses ungewöhnliche Hungertuch. Ein Triptychon mit kraftvollen Liniengebilden, die dynamisch zu schwingen scheinen. Anatomische Details fügen sich zu einem Bild: Ein Fuß kommt uns in der gesamten Breite auf hellem Grund entgegen. Er ist von rechts nach links schräg in den Raum gesetzt und erzeugt auch durch die für uns ungewohnte Blickachse große Dynamik.

Blicken wir zunächst auf das zentrale Element: den – gebrochenen – Fuß.

Santiago de Chile im Oktober 2019: Tausende Chilenen und Chileninnen haben sich auf dem „Platz der Würde” versammelt. Sie stehen auf für Grundsätzliches: tiefgreifende gesellschaftliche Reformen und mehr Demokratie in Chile. Die Demonstrierenden benannten die Plaza Italia, auf der sie sich versammelten, 2019 in „Platz der Würde“ um. Die Proteste eskalieren, nachdem die Polizei gewaltsam eingegriffen hat. Über tausend Menschen wurden bei den damaligen Unruhen verletzt, rund 7000 wurden verhaftet. Zahlreiche der meist jungen Demonstrierenden werden brutal verletzt, die Opfer in das nahegelegene Krankenhaus gebracht.

Als Grundlage ihres Bildes hat die chilenische Künstlerin Lilian Moreno Sánchez das Röntgenbild eines vielfach gebrochenen Fußes verwendet. Der Fuß gehört zu einem Menschen, der bei diesen Demonstrationen im Oktober schwer verwundet wurde. Die Künstlerin hat das Röntgenbild aus der Klinik in Santiago adaptiert und anonymisiert verwendet. Hautfarbe, Geschlecht, Alter spielen keine Rolle. Opfer ist ein Mensch, der bei der demokratisch garantierten Wahrnehmung seiner Bürgerrechte durch die Staatsgewalt verletzt worden ist. Durch den präzisen Blick ins Körperinnere „durchblicken“ wir die Oberflächlichkeit und sehen tief drinnen die genauen anatomischen Details der Diagnose.

Warum ein Röntgenbild? Es zeigt die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit von uns Menschen. Es erlaubt, in die Tiefe, durch die oberflächlichen Schichten hindurch zu schauen – man sieht kein Fleisch, nur Gelenke und Knochen, die inneren Strukturen.

Man spürt deutlich den Bruch, den Schmerz. Die Linien des Hungertuches kämpfen, sie sind verschlungen, aber sie lösen und befreien sich. Sie bekommen eine Leichtigkeit. Sie tanzen in unterschiedlicher Intensität. Die Künstlerin nennt das die Kraft des Wandels.

Der Fuß wird neben dem Knie von allen Körperteilen am meisten beansprucht. Unsere Füße tragen und stabilisieren uns, sie geben festen Stand. Sie treten auf und zertreten, auf ihnen marschieren und protestieren wir. Sie hinterlassen ihren Abdruck und halten die Spur.

Auf eigenen Füßen stehen ... etwas hat Hand und Fuß ... den Boden unter den Füßen verlieren ... je-mandem auf die Füße treten ... einen Fußabdruck hinterlassen…

 

Die Füße tragen und bewegen den Körper. Was bedeutet es, aufgrund einer Verletzung nicht gehen zu können, nicht vorwärts zu kommen?

 

Der auf dem Hungertuch abgebildete Fuß ist mehrfach gebrochen. Dagegen endet Vers 9: „Du stelltest meine Füße in weiten Raum“. Der Mensch ist für die Freiheit, für eine offene Zukunft bestimmt. Doch Gewalt, die ihm angetan wird, und einengende Strukturen hindern ihn, sich frei zu entfalten. Das gilt für jede(n) Einzelne(n), das gilt aber auch für ganze Bevölkerungsgruppen und Völker: zum Beispiel für die Armen einer Gesellschaft, für soziale und ethnische Minderheiten, für die armen Länder innerhalb der globalisierten Weltwirtschaft. Was braucht es, damit sie Heilung und Stärkung erfahren? Was hemmt Menschen, ihre Visionen zu verwirklichen? Privat – auf die Gesellschaft bezogen, im Hinblick auf Gerechtigkeit – weltweit?

 

Zeichen-Kohle umreißt in großen Gesten die gebrochenen und verdrehten Knochen und Gelenke des linken Fußes, Ferse und Teile des Unterschenkels. Wie mit leichter Hand hingestreut bilden zwölf goldene Blumen den größtmöglichen Kontrast zu den schmerzvollen Brüchen.

Bettlaken, Staub, Gold, Leinöl

Die Künstlerin hat ihr Bild auf drei Keilrahmen als Triptychon angelegt.

Das schimmernde Material, das die Kohle-Zeichnung trägt, ist aus zweierlei Bettwäsche: den weißen Stoff nutzte vormals eine europäische Klinik und das Tuch mit eingewebtem floralen und gestreiften Muster stammt aus dem ehemaligen Salesianerinnen-Kloster Beuerberg bei München. Die Idee bei dieser Kombination ist, die körperliche Heilung mit der spirituellen zu verbinden. Beides ist notwendig.

Das weiße Laken folgt den Linien der Knochen, der in sich geblümte und gestreifte Bettbezug ist oben und unten darübergelegt. Vielfach gefaltet, kunstvoll geschichtet und komponiert, an Schnittmuster erinnernd, auseinanderklaffend wie verletzte Haut und mit goldenem Zickzack wieder zusammengenäht, um Heilung zu ermöglichen. Falten weisen auf Störungen hin – so als ob eine imaginäre Haut sich über die Knochen schiebt.

Auf dem Platz der Würde in Santiago de Chile hat sie Erde und Staub eingesammelt und in den Stoff gerieben, der nicht glatt und makellos, sondern mit eingebügelten Falten und Verwerfungen auf die Keilrahmen gespannt wurde. Man erkennt feine eingenähte Goldfäden; sie sind wie Wundnähte, die nach dem Abheilen einer Verletzung sichtbar bleiben. Die zwölf zum Schluss aufgebrachten goldenen Blumen greifen das Muster der Kloster-Bettwäsche, eingewebte Blüten, auf: gleichzeitig zarte und kraftvolle Zeichen für das Leben, das erblüht und sich immer neu verschenkt.

Während das Röntgenbild deutlich die Brüche der Knochen und Gelenke zeigt, die Verletztheit, den Schmerz, symbolisieren die Blumen Schönheit, Zartheit und Kraft – das unbesiegbare und neu erblühende Leben.

Die gelblich-braunen Flecken hat die Künstlerin mit Leinöl aufgetragen, sie erinnern an Wundsekret einerseits, aber auch an Salben, die zur schnelleren Heilung auf die Wunden aufgetragen werden.

Die schwarzen Linien des Röntgenbildes, die verwendeten Materialien Zeichenkohle, Staub und Erde sowie die karge Bildsprache verweisen auf die Passion Christi und die Passionen der Menschen; dagegen stehen Gold und Blumen für das kostbare Leben, für Hoffnung und Liebe. Die Linien des Röntgenbildes vermitteln auch einen Eindruck von Leichtigkeit, sie scheinen zu tanzen: Leben ist ein Prozess, der immer weitergeht – auch mit verwundeten und gehemmten Füßen vertrauen wir auf die Kraft des Wandels.

Wir sind gerufen, nicht im Leid zu verharren, sondern „Wege ins Weite“ zu suchen.

Abschließend ein Zitat der Künstlerin:

„Mein Thema ist das Leiden der Menschen, aber immer ist es verbunden mit Heilung, so wie die goldenen Nähte und die Blumen auf dem Hungertuch ein Versprechen von Schönheit und Ganzheit sind. Das Hungertuch versinkt nicht in Leiden, Schmerz und Depression, sondern es zeigt Wege hinaus in die Solidarität, die Liebe und die Hoffnung.

Eine andere Welt ist möglich. Diese Hoffnung möchte ich teilen.“

 

Dieser Text basiert auf den Texten des Misereor-Arbeitsheftes zum Hungertuch 2021/22.

Bearbeitet und eingesprochen von Marcus Bartelt.

Musikalisches Anspiel: Christoph Möller